Mutig und selbstverantwortlich gegen Schranken antreten

17.9.2019

Susanne Willen, Dominic Remund und Maurice Collin haben sich in der Recovery-Weiterbildung im Schlossgarten Riggisberg kennengelernt. In dieser Weiterbildung haben Sie gelernt, selber Verantwortung für die eigene Gesundung zu übernehmen. Sie kämpfen zwar mit unterschiedlichen Einschränkungen, haben aber einiges gemeinsam. Sie verbindet nicht nur ihre Freundschaft, sondern auch ihr Wille, sich Ziele zu setzen und darauf hinzuarbeiten.

Kann man in einem Heim zu Hause sein?

Maurice Collin: Ich war zuvor in einem betreuten Wohnen in Utzigen und fühlte mich dort sehr eingeschränkt. Hier im Schlossgarten lernte ich Susanne kennen. Jetzt sind wir seit sieben Monaten ein Paar. Wenn ich hier über das Areal gehe, fühle ich mich zu Hause. Ich muss mich nicht verstellen sondern kann so sein, wie ich bin.

Susanne Willen: Ich habe vor Kurzem hier eine Studiowohnung bezogen und habe jetzt viel Freiraum. Das geniesse ich. Dennoch bin ich an den Schlossgarten angeschlossen, habe die Hausärztin und Psychiaterin hier. Wenn etwas ist, kann ich Hilfe holen. Letzte Woche hatte ich eine Krise, habe aber die Warnzeichen frühzeitig erkannt und konnte mir so Strategien zurechtlegen, wie es weitergehen kann. Die Recovery-Weiterbildung hat mir dabei sehr geholfen. Zum Beispiel verwalte ich nun meine Medikamente in der Wochendosette selber.

Ist Selbständigkeit immer das Ziel, wenn man in einem Heim lebt?

Dominic Remund: Für mich war immer klar, dass ich so schnell wie möglich wieder selbständig sein wollte. Ich wollte auch aus dem Psychiatrieumfeld raus, weil ich mich selber nicht als krank sah. Ich hatte eine Suchtproblematik. Hier fasste ich den Entschluss, damit aufzuhören. Zuerst war ich im begleiteten Wohnen, danach hatte ich eine Wohnung bei den Personalhäusern und seit letztem Jahr habe ich eine eigene Haushaltung.

Was macht es aus, dass man sich wohl fühlt?

mc: Die Offenheit der Menschen hier. Man traut den Menschen hier mehr zu als anderswo. Das führt dazu, dass man ein besseres Selbstbewusstsein entwickeln kann.

Wie finden Sie die Balance zwischen Rückzugsmöglichkeiten und dem Kontakt mit anderen?

sw: Manchmal ist es schwierig, genügend Privatsphäre zu haben. Ich bin im Bewohnerrat, wo ich diese Themen einbringe. Es geht dort zum Beispiel darum, wie man mit einander umgeht. Dazu gehört auch, dass man ehrlich ist, für seine «Ämtli» besorgt ist oder keine Schimpfwörter benutzt. Es braucht Freiheit aber auch einen Rahmen - eine Struktur.

Wie in einer Wohngemeinschaft?

sw: Genau.
mc: Auch in Utzigen war das eine Frage. Wo setzt man die Grenzen? Für manche sind sie zu stark, für andere bräuchte es mehr. 

Welche Träume und Ziele haben Sie?

sw: Ich würde gerne weiterentwickeln, was ich in der Recovery-Weiterbildung gelernt habe und anderen helfen.

mc: Mein Ziel wäre es, ohne Psychopharmaka leben zu können. Oder einen guten Umgang damit zu finden. Beim Antipsychotikum weiss ich gar nicht genau, warum ich es nehme. Mich stört manchmal, wie wenig man als Patient darüber bestimmen kann. Ich fände es gut, wenn wir die Medikamente selbst verwalten könnten.

sw: Du möchtest doch auch selbständig wohnen.

mc: Ja – im Moment wohne ich in einer WG. Dort merke ich gut, dass auf mir als Person mit Einschränkungen zusammen mit zwei angeblich nicht eingeschränkten Mitbewohnern ein Druck lastet. Man erwartet von mir, dass ich die Hausarbeit erledige, auch wenn es mir nicht gut geht oder auch dann, wenn ich Schmerzen habe. Das führt zu Konflikten. Deshalb könnte es ein Ziel sein, allein zu wohnen. Für mich ist die Recovery-Weiterbildung hier im Schlossgarten ein Neuanfang, so konnte ich die Freundschaft zu Susanne und Dominic aufbauen.

dr: Mein Ziel wäre eine Ausbildung und eine geregelte Beschäftigung. Ich habe noch keine Ausbildung, habe zwei Mal abgebrochen, das möchte ich nachholen. 

Ich befürchte aber, dass jemand mit Handicap in einem Betrieb nicht erwünscht ist. Das macht mir Sorgen.


Das heisst die Erwartungen der anderen sind schwierig zu erfüllen?

mc: Druck und Stress machen die Menschen krank. Auch von normalen Menschen wird zu viel verlangt.

Was würde Ihnen dabei helfen, Ihre Ziele zu erreichen?

dr: Toleranz. Der Umgang miteinander ist wichtig und auch der Umgang mit der Natur. Was wir mit dem Planeten machen ist schlimm.
mc: Ich wünsche mir, dass man mich als Menschen wahrnimmt. Mehr nicht.

Wann fühlen Sie sich am wohlsten?

dr: Immer kurz vor dem Einschlafen, wenn ich ins Bett gehe und meinen Gedanken freien Lauf lasse. Das finde ich den besten Moment des Tages, dann bin ich entspannt.

mc: Wenn ich im Wald spazieren gehe oder vom Tavel-Denkmal hinunter blicke, das geniesse ich. In der Natur fühle ich mich frei.

sw: Ich muss immer etwas tun, ich kann nicht gut sitzen und den Himmel ansehen.

Wann waren Sie stolz auf sich?

sw: Für mich war die Recovery-Weiterbildung ein Moment, in dem mir das Herz aufging; ich habe sogar einen Vortrag gehalten. Das brauchte Mut.

mc: Ich hatte eine Benzodiazepin-Abhängigkeit. Ich bin stolz darauf, dass ich den Entzug überstanden habe und noch am Leben bin. Das war für mich wie ein Tor zur Welt, davor glaubte ich an nichts mehr. Jetzt habe ich einen Weg gefunden, ohne diese Medikamente zu leben.

dr: Ich bin stolz auf den Weg, den ich gemacht habe. Ich habe geschafft, dass ich keine Drogen oder Alkohol mehr nehme, am Morgen zur Arbeit gehe, aufräume oder putze und erledige, was gerade ansteht.

Seit den 1990er-Jahren existiert das Recovery-Konzept für psychisch erkrankte Menschen.

Hier finden Sie Informationen von
Pro Mente Sana.