Keine Angst, sich selbst zu sein.

Judith Weber ist Mutter von zwei Kindern, eines davon im Autismus-Spektrum. Was es bedeutet, einen Menschen mit besonderen Bedürfnissen zu begleiten, erzählt sie im Interview.

Wann wurden Sie zum ersten Mal mit dem Thema «Behinderung» konfrontiert? 

Judith Weber: Das Leben hat mich schon sehr früh mit dem Thema «Anderssein» konfrontiert und mir eine Schwester mit körperlicher und geistiger Behinderung geschenkt. Ich lernte, wie wichtig es ist, sich für die eigenen Bedürfnisse einzusetzen und welche Bereicherung jeder Mensch für unsere Welt ist.

Wie sind Sie als Kind mit dieser Situation umgegangen?

Mit meiner Schwester gab es viele Hürden zu meistern, sei es in Zeiten von Krankheit, bei Fragen der Betreuung oder Therapie und vielem mehr. Wir lernten für sie und ihre Bedürfnisse zu kämpfen. Sie litt unter Epilepsie, konnte sich nicht ausdrücken und benötigte 24-Stunden-Betreuung. Als Familie hat uns dies Zusammenhalt gegeben und Verständnis fürs «Anderssein» gelernt. Sie liebte bedingungslos und ich begriff, dass das Leben wertvoll ist, ohne Leistung erbringen zu müssen. Ohne miteinander sprechen zu können, hatten wir eine tiefe emotionale Verbindung zu ihr.

Hilft Ihnen diese Erfahrung für den Weg mit Ihrem Sohn?

Ja, sie gab mir wertvolle Ressourcen dafür. Leando besucht mit heilpädagogischer Unterstützung die Regelklasse und ist gut integriert. Damit dies gelingt, ist eine gute Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schule sowie das nötige Wissen und Verständnis von allen Seiten erforderlich. Er fasziniert seine Mitmenschen durch sein enormes Allgemeinwissen und seinem überdurchschnittlichen Wortschatz. Leando lehrt uns, die Welt auch durch eine andere Brille wahrzunehmen.

«Zeige dich der Welt so, wie du bist und bereichere sie mit deiner Einzigartigkeit.»
Judith Weber

Was ist für Sie die grösste Herausforderung?

In unserer leistungsorientierten Gesellschaft fehlt es oft an Mitgefühl und Unterstützung für Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Das stimmt mich nachdenklich. Ich wünsche mir mehr Offenheit gegenüber Menschen, die nicht der Norm entsprechen. Unser Kind passt vielleicht nicht in das vorgegebene «starre» System. Doch jeder Mensch soll sich entfalten dürfen.

Wie können Sie als Eltern hier Unterstützung bieten?

Wir setzen uns für optimale Bedingungen ein, damit unser Kind sein Potential entfalten kann, gesund bleibt und an Selbstsicherheit gewinnt. Wir öffnen uns den Möglichkeiten. Aus meiner Erfahrung sind Grenzen oft nicht so starr, wie sie uns zu Beginn erscheinen. Manchmal schliesst sich eine Tür, damit eine andere aufgehen kann.

Welche Wünsche haben Sie für die Zukunft?

Mir ist wichtig, dass wir unsere Kinder darin unterstützen, vertrauensvoll und mutig ihren eigenen Weg zu gehen und Herausforderungen als Chancen zu erkennen. Sie sollen dem Leben vertrauen können. Es wäre schön, wenn wir wertungsfrei und offen Menschen mit besonderen Bedürfnissen begegnen würden, denn sie zeigen uns die Seiten des Lebens, die wir noch nicht kennen. Sie bereichern uns mit ihrer ganz persönlichen Art und erweitern unseren Horizont. Ich bin dankbar, Mutter von einem Kind zu sein, das mir jeden Tag aufs Neue zeigt, was im Leben wirklich zählt.