klangantrisch: Musik als Weg zur Inklusion

Wie kann ein Musikfestival dazu beitragen, Hürden abzubauen? Ein Gespräch mit Kaspar Zehnder und Thomas Marti, die in Riggisberg das Festival klangantrisch gegründet und aufgebaut haben.

Kaspar Zehnder, wie kann man erreichen, dass Musik möglichst allen offensteht, beispielsweise, dass Menschen mit Beeinträchtigungen bei einem Orchesterprojekt mitmachen können? 

Kaspar Zehnder: Viel hängt von der Sensibilität der Person ab, die das Orchester oder den Chor leitet. Bei einem gemischten Orchester beispielsweise muss sich der Dirigent viel mehr Zeit nehmen und gut erklären können. Bei einem Profiorchester hat man hat deutlich weniger Zeit. Die zentrale Frage ist allerdings, was man anstrebt. Zählt das musikalische Ergebnis - oder ist vor allem der gemeinsame Weg, das gemeinsame Erlebnis wichtig? Bei einem Inklusivorchester oder einem Inklusivchor steht in meinen Augen das Erlebnis im Zentrum. Eine intensive gemeinsame Woche wäre schön, zum Beispiel eine Singwoche. So können Musiker mit und ohne Einschränkungen zu einer Gruppe zusammenwachsen.

Wie kam es zur Zusammenarbeit zwischen dem Festival klangantrisch und dem Schlossgarten Riggisberg?

Thomas Marti: In Riggisberg gibt es zwei bedeutende Institutionen: der Schlossgarten und die Abegg-Stiftung. Mit dem Schlossgarten hatten wir noch nicht zusammengearbeitet. Auf unsere Anfrage reagierten die Verantwortlichen sehr spontan und grosszügig. Sie gaben uns sozusagen den kleinen Finger und wir nahmen die ganze Hand (lacht).

Die Chemie stimmte also.

tm: Der Schlossgarten war uns gegenüber sehr offen und wir waren dankbar, dass wir ihn als Veranstaltungsort miteinbeziehen konnten. Seither ist die Zusammenarbeit kontinuierlich gewachsen.

kz: Für mich ist neben den Austragungsorten auch diese spektakuläre Region das Fundament des Festivals als hochstehendes Dorf-Fest mit klassischer Musik. Unsere Botschaft ist, dass jede und jeder Zugang hat, ganz im Sinne eines Menschenrechts.

Wie kam es zur Gründung von klangantrisch?

tm: Ich bin einer der Initianten dieses Festivals. Die Idee dazu entstand 2013 in einem Männerkochclub. Beim Rühren im Fondue diskutierte ich mit Peter Engeloch die Idee eines Musikfestivals in Riggisberg. Drei Tage später rief ich ihn an und sagte «wenn wir es jetzt nicht machen, dann nie». So hat alles angefangen.

Wie erreichen Sie, dass das Festival möglichst hürdenfrei ist? 

tm: Wir wollen mit dem Festival zur gegenseitigen Toleranz beitragen. Gemeinsam mit dem Schlossgarten werden wir deshalb den eingeschlagenen Weg weitergehen und zeigen, dass die Freude an der Musik über Einschränkungen hinweg die Menschen verbindet. Den Familientag im Schlossgarten ist bereits ein fester Bestandteil des Festivals.

Thomas Marti, was wäre für Sie als Riggisberger eine Wunschvorstellung des Zusammenlebens?

tm: Dass man vorbehaltlos aufeinander zugeht und sich nicht aufgrund des Äusseren oder der individuellen Eigenarten vorschnell ein Urteil bildet. Offen zu sein – dies wäre für mich ein Idealbild.

Wäre es vorstellbar, dass Menschen mit Einschränkungen am Festival mitarbeiten?

tm: Ich könnte mir vorstellen, dass man näher zusammenrückt. Einsätze wären zum Beispiel an der Garderobe oder im Service denkbar, vielleicht auch beim Auf- oder Abbau, immer im Rahmen der Möglichkeiten. Für uns wäre dies bereichernd und würde die Hemmschwellen und Vorurteile abbauen. Wir sind sicher offen und möchten mit gutem Beispiel vorangehen.

Was bleibt Ihnen an der diesjährigen Austragung besonders in Erinnerung?

tm: Die strahlenden Augen. Tabula Musica spielte im Schlossgarten. Ein Bandmitglied freute sich so fest über seinen Applaus, dass ich beinahe Tränen in den Augen hatte. Man spürte, welche Bedeutung der Auftritt für ihn hatte. Das war sehr eindrücklich.

kz: Wir hatten eine hochkarätige Tangogruppe bei uns, die mit dem Orchester auftrat. Am Nachmittag boten die Tänzer einen Tango-Crashkurs an. Ein Paar, dass im Schlossgarten wohnt, nahm am Kurs teil. Sie tanzten zusammen und gingen ganz darin auf. Für diesen Moment habe sich der Kurs bereits gelohnt, fanden die Kursleiter, weil es so schön war. Das ist mir sehr geblieben. Oder auch die Kinder und Bewohnenden, die drei Mal beim Glacéwagen anstanden (lacht).

Kaspar Zehnder, gibt es ein Format oder ein Projekt im Sinne der Inklusion, das Sie als Dirigent reizen würde?

kz: Ende nächster Saison in Biel machen wir ein gemeinsames Konzert mit dem Sinfonieorchester Biel-Solothurn und dem von Thomas erwähnten Inklusionsorchester Tabula Musica. Wir müssen ausprobieren, wie das funktioniert. Damit sich die Mitglieder des Inklusionsorchesters an die Zusammenarbeit gewöhnen können, beginnen wir rechtzeitig mit den Proben und lassen uns viel Zeit. Wir gehen mit der Einstellung an das Projekt, dass nicht alles reibungslos laufen muss. Mit dieser Erfahrung werden wir auch wieder klangantrisch weiterentwickeln können. Inklusion müsste man mit unbeschränkter Zeit leben können.

Kann Sie so ein Projekt als Symphonieorchester weiterbringen?

kz: Ganz sicher. Die Zusammenarbeit mit einem Inklusionsorchester fordert das Orchester heraus und zwingt uns, unseren Panzer zu öffnen. Das bringt uns weiter, auch im Konzerterlebnis. 

Wenn der Funke am Konzert überspringt, wird die Musik menschlich – und zwischenmenschlich. 

Und ohne das geht es nicht. Mein Traum wäre eine Woche im Piemont mit dem Synfonieorchester und mit Menschen mit Beeinträchtigungen zu arbeiten. Dies würde uns musikalisch aber auch zwischenmenschlich weiterbringen.

Zu den Personen

Kaspar Zehnder ist in Riggisberg aufgewachsen und prägt seit der Gründung 2013 das Festival klangantrisch als künstlerischer Leiter. Seit 2012/2013 leitet er das Sinfonie Orchester Biel Solothurn und seit 1999 die Sommerfestspiele Murten Classics.

Kaspar Zehnder
Kaspar Zehnder

Thomas Marti ist Co-Gründer und Präsident von klangantrisch, wohnt in Riggisberg und ist Mandatsleiter bei der MEEX Versicherungsbroker AG.

Thomas Marti
Thomas Marti

Zum Festival klangantrisch

klangantrisch hat sich das Label «crossover» verliehen; d.h. Klassikvorführungen wechseln sich mit theatralischen oder tänzerischen Beiträgen ab. Dem Festival liegt der Aspekt der Integration von Familien sowie der Inklusion von Menschen mit Beeinträchtigungen am Herzen. 2020 findet klangantrisch vom 4. bis 7. Juni statt.

Tangovorführung am Familientag, klangantrisch 2019
Tangovorführung am Familientag, klangantrisch 2019

«Inklusion braucht eigentlich unbeschränkt Zeit.» Kaspar Zehnder