Nicht Hindernis sondern Chance

Myriam Rihs nimmt - wie auch ihr Ehepartner und ihre beiden Kinder - die Welt anders wahr. Dass sie die Autismus-Spektrum-Störung (ASS) nicht als Einschränkung empfindet und ihre Tochter darin sogar eine Fähigkeit entdeckt hat, die sie im Berufsleben einsetzen kann, ist nicht selbstverständlich. Familie Rihs hat trainiert, sich nicht beschränken zu lassen.

Myriam Rihs, wie definieren Sie Asperger und hochfunktionalen Autismus?

Menschen mit ASS sind sensorisch anders und funktionieren nach einem anderen System. Ich habe meine Autismus-Diagnose erst spät – mit fünfzig - erhalten. Ich habe meine sieben Sinne «beisammen», kann auch sehr gut schreiben – aber meine Wahrnehmung der Welt ist anders: sie funktioniert auf der analytischen Ebene, nicht auf der emotionalen.

Nehmen Sie ASS als Einschränkung wahr?

Seit meiner Diagnose fühle ich mich besser. Ich bin frei, meinen eigenen Weg zu wählen. Die eigene Identität zu finden, ist dafür in meinen Augen entscheidend. Mir hat zum Beispiel das Singen und ein Stimmtraining dabei geholfen, zu mir selbst zu finden. Als Kind sagte ich fast nie etwas, erst ein toller Musiklehrer brachte mich meiner eigenen Stimme näher. Heute singe ich in einem Chor; das trägt sehr viel zu meiner Lebensqualität bei. Einschränkend wird es für mich dann, wenn ich die Erwartungen anderer erfüllen muss. Dann bin ich nicht mehr ich selbst und das ermüdet.

Was ist für Sie das Schwierigste im Umgang mit Nicht-Autisten?

Meine Wahrnehmung ist rational. Bei Nicht-Autisten wird alles von Gefühlen gesteuert, die für Autisten manchmal schwierig nachzuvollziehen sind. Ich habe mir Strategien zurecht gelegt, wie ich mit Nicht-Autisten umgehen kann. Ich will meinem Gegenüber das Gefühl geben, dass ich sie oder ihn als Menschen wertschätze. Das habe ich mir antrainiert - und es klappt gut. Auch unseren Kindern haben wir beigebracht, wie sie sich in der nicht-autistischen Welt bewegen können.

Sie haben Ihnen Tipps mitgegeben?

Ja – wir haben mit ihnen geübt, wie soziale Kontakte funktionieren. Mit unserem Sohn, der früher nicht sprach, schauten wir Filme von Charlie Chaplin. Sie kommen ohne Worte aus, sagen aber sehr viel über das menschliche Zusammenleben aus. Er liebte das über alles. Die Geschichten sind klar, die Gesichtsausdrücke in der Pantomime sind übertrieben deutlich und die Handlung der Geschichten konnte er über die Bilder und die Musik nachvollziehen. So tasteten wir uns schrittweise ans Sprechen heran. 

Alle unsere Kinder konnten eine Regelklasse besuchen. Wir haben uns dagegen gewehrt, ins IV-System eingegliedert zu werden und wollten unseren eigenen Weg gehen. Was für uns ganz wichtig war: Wir wollten unsere Kinder dabei unterstützen, sich selbst anzunehmen und die eigenen Fähigkeiten zu entdecken. Manche Eigenheiten von Menschen mit ASS können gute Werkzeuge sein fürs Leben; es geht darum sie richtig einzusetzen. So kann man den Rest kompensieren.


Was hat Ihren Kindern am meisten geholfen?

Unsere Kinder sind in einer kleinen Dorfschule zur Schule gegangen, das war sicher hilfreich. Ihr Lehrer war vorbildlich und nahm sich sehr viel Zeit. Unserem Sohn zum Beispiel machte er das Angebot, ihm jeden Tag eine halbe Stunde bevor die Schule anfing bei den Aufgaben zu helfen. Er beherzigte dies und konnte in diesem ruhigen Umfeld vor Schulbeginn sehr profitieren. Heute macht er ganz normal ein EFZ als Karosseriespengler und ist in der GIBB in der Begabtenförderung. Das entspricht seinen Sonderinteressen sehr. Unsere Tochter hat eine Erstausbildung als Restaurationsfachangestellte gemacht und ist im Moment in einer weiteren Ausbildung zur Fachfrau KITA. 

Ihre Tochter hat zwei Ausbildungen gewählt, bei denen sie viel mit Menschen umgehen muss.

Genau – zu Beginn war das für sie herausfordernd. Dann hat sie aber entdeckt, dass sie sehr gut mit kleinen Kindern umgehen kann und gut merkt, wie es ihnen geht. Nicht anhand von Mimik und Körpersprache – das ist für Autisten nicht so einfach – sondern über die Stimme und die Ausstrahlung. Besonders zu Kindern, die als schwierig gelten, findet sie einen guten Draht. Als autistisch wahrnehmende Person hat sie dafür eine besondere Fähigkeit.

Auf was sind Sie besonders stolz?

Wir sind als Familie autonom und selbständig. Wir leben gut – auch mit den sensorischen Eigenheiten, die wir haben. Wir leben uneingeschränkt, ohne auf fremde Hilfe angewiesen zu sein.

Myriam Rihs
Myriam Rihs

Autismus Bern setzt sich dafür ein, dass Menschen mit Autismus am gesellschaftlichen Leben teilhaben können. 

Um dies zu erreichen, vertritt Autismus Bern die Interessen der Menschen mit Autismus im Kanton Bern gegenüber Politik, Wirtschaft und Gesellschaft, vernetzt Betroffene, Angehörige und Fachpersonen, informiert über Autismus und fördert die Entwicklung von neuen Angeboten.

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