Kein Bonus, sondern ein gesetzliches Anrecht

Prof. Dr. Martin Meyer hat das System des Nachteilsausgleichs an der Hochschule für Technik FHNW mitentwickelt. Warum er dabei auch schon auf den Hund gekommen ist, erzählt er im Interview.

«Beim Nachteilsausgleich geht es nicht darum, die Leistungsanforderung zu senken. Vielmehr geht es um die Schaffung von speziellen Rahmenbedingungen, damit die betroffenen Studierenden ihre Leistungen erbringen können.»  Auszug aus dem Merkblatt der Hochschule für Technik, FHNW

Herr Meyer, wie geht die FHNW mit dem Thema Inklusion um?

Studierende mit einer Einschränkung haben ein gesetzliches Anrecht auf einen Nachteilsausgleich, denn sie können sich nicht «einfach zusammenreissen». Sie benötigen unsere Unterstützung, damit sie ihre Leistungen abrufen können. Die Studiengangleiter benötigen allerdings ein ärztliches Attest, wir entscheiden nicht selbst, ob jemand Anrecht auf Ausgleich hat oder nicht. Das ist aus Fairnessgründen wichtig, auch gegenüber den anderen Studierenden. Wo zieht man die Grenze? Das soll eine Ärztin entscheiden.

Was geschieht dann?

Dann vereinbart der Studiengangleiter, die Studiengangleiterin mit der Studierenden oder dem Studierenden die Details des Ausgleichs. Die Studierenden ihrerseits müssen sich damit einverstanden erklären, dass Klassenkolleginnen darüber orientiert sind. Das dient der Transparenz und hilft, dass der Nachteilsausgleich nicht als Bevorzugung wahrgenommen wird und ist ein Mittel zur Enttabuisierung.

Welche Form kann ein Nachteilsausgleich annehmen?

Das entscheiden die StudiengangleiterInnen gemeinsam mit den Studierenden und formulieren anschliessend die Vorgaben an die Dozierenden. Je nach Einschränkung kann dieser Ausgleich sehr unterschiedlich aussehen. Jeder Fall wird individuell beurteilt und wir können auch die Fachperson zu Rate ziehen, welche das Attest ausgestellt hat.

Der Ausgleich kann zum Beispiel darin bestehen, elektronische Hilfsmittel zur Verfügung zu stellen, Zeitzuschläge zu gewähren oder Aufgaben anzupassen, je nach Form der Einschränkung. Einmal haben wir beispielsweise dafür gesorgt, dass der Blindenhund einer Studentin während der Prüfung Gassi gehen kann, damit sie das nicht selbst tun muss. Das war weniger einfach als es klingt (lacht).

Was ist das Ziel des Nachteilsausgleichs?

Wir haben dazu einen gesetzlichen Auftrag:
Studierende mit Einschränkungen sollen dieselben Chancen haben. Das rechtfertigt den Aufwand, den wir betreiben. Wir schulden es diesen Studierenden, dass sie ihr Potenzial ausschöpfen können. Das macht auch volkswirtschaftlich Sinn. Es ist also nicht lediglich ein Entgegenkommen. Zudem, plakativ ausgedrückt: Die Prüfungssituation in der Schule (fünf Aufgaben in zwei Stunden lösen) entspricht nicht der Prüfungssituation im Berufsleben. Anders ist das z.B. bei der Thesis (Diplomarbeit), dort hatten wir bisher auch keinen Fall eines Nachteilsausgleichs.

Gibt es Fälle, wo ein Nachteilsausgleich nicht möglich ist?

Meistens geht es. Rollstuhlgängigkeit haben wir zwar selbst nicht in unserer Kontrolle, dort spricht sich die FHNW mit der Besitzerin der Liegenschaft, dem Kanton Aargau, ab. Aber auch in dieser Beziehung sind wir gut unterwegs. Manchmal müssen wir überzogene Forderungen etwas anpassen, zum Beispiel wie viel Zeitzuschlag möglich ist. Für diese Abwägungen sind die StudiengangleiterInnen verantwortlich.

Ist Ihnen ein Beispiel besonders in Erinnerung geblieben?

Ja, mein erster Fall: eine Elektrotechnik-Studentin mit Asperger, die von der ETH kam und dort gescheitert war. Während des zweiten Semesters kam sie auf mich zu und wünschte eine Beratung. Dort offenbarte sie mir, dass sie Asperger hatte. Ich musste mich einlesen und schloss dann mit ihr eine Vereinbarung, die ihr das Studium erleichterte. Sie durfte in den Prüfungen Erklärungen verlangen und erhielt mehr Zeit. Fragestellungen durften zum Beispiel keine Metaphern enthalten. An der Diplomfeier erzählte sie mir, dass sie bei einer grösseren Firma eine Stelle gefunden hat, was mich sehr freute.

Erfolg also trotz schwierigen Startbedingungen?

Wie wird man erfolgreich? Indem man sich richtig einschätzt und weiss, was man kann und was man nicht kann. Deshalb gibt es für alle Menschen gute Möglichkeiten, auch für Studierende mit Nachteilsausgleich.


Prof. Dr. Martin Meyer, Leiter Ausbildung, Hochschule für Technik FHNW
Prof. Dr. Martin Meyer, Leiter Ausbildung, Hochschule für Technik FHNW