Unterwegs zur Langsamkeit

Noémie Walser hat mehrere Krisen erlebt, die zwischen 15 und 18 zu mehreren Klinikaufenthalten und mit 18 zu einer IV-Rente führten. «In der Klinik hatte ich fast schon einen eigenen Briefkasten», lacht Noémie. Wie sie danach ihre innere Balance wieder fand, erzählt sie im Interview.

Nachdem es in ihrer Therapie nicht mehr vorwärtsging, schlug Noémies Therapeutin vor, laufen zu gehen. So wurden die Sitzungen kurzerhand nach draussen verlegt. «Da spürte ich, dass sich etwas zu verändern begann», erzählt Noémie.

Was dann folgte, war ab Anfang 20 eine wahre Achterbahnfahrt: Eine abgeschlossene Ausbildung als Logistikerin, Wiedereingliederung in den ersten Arbeitsmarkt, eine 100%-Anstellung in der Logistikbranche, erste erfolgreich gelaufene Marathons, eine Partnerschaft und die gemeinsame Wohnung. Aber auch darauffolgende Rückschläge mit erneuten Krisen, einem abgebrochenen Sozialpädagogik-Studium und sozialem Rückzug.

«Meine Ansprüche an mich selbst waren so hoch, dass ich diese nicht erfüllen konnte. Es ging mir wieder schlechter, ich hatte Panikattacken und konnte gar keinen Sport mehr treiben», erzählt Noémie. «Erst, als ich wieder bei Null beginnen musste, merkte ich, was mir wirklich wichtig ist. Und stellte mein Leben auf den Kopf.»

Zuerst verkaufte Noémie stundenweise Erdbeeren am Strassenrand und freute sich über wiederkehrende Stammkunden. Später wechselte sie erfolgreich zurück in die Logistik bei einer Firma für Naturprodukte, kündigte die Stelle aber nach vier Jahren aufgrund der Doppelbelastung einer Weiterbildung wieder.

«Ich wollte handeln, bevor mir wieder alles zu viel wurde», sagt sie. Noémie nahm sich mit dem Schlafsack im Kofferraum eine Auszeit, um zu wandern. Sie badete in Bächen und erkundete das Bündnerland, die Innerschweiz, den Alpstein. Und fand schliesslich den Job, den sie heute liebt.

«Man muss sich erst Raum schaffen, damit Neues ins Leben kommen kann. So fand auch mein heutiger Job als Fachmitarbeiterin Recovery bei Pro Mente Sana zu mir»,
fasst Noémie ihren bisherigen Weg zusammen.

Noémie, du bringst den Menschen heute den Begriff «Recovery» näher. Was bedeutet er für dich?

Recovery verstehe ich als Reise und weniger als Ziel. Er bedeutet für mich, dass es mir auch mal schlecht gehen darf. Wie bei einer Grippe läuft man manchmal auf Sparflamme und dann geht es wieder besser. Es geht darum, sich selbst zu erlauben, dass man auch mal krank sein darf, um danach wieder zu gesunden. Und darum, mit sich selbst ehrlich zu sein.

Waren die hohen Erwartungen an dich selbst mit ein Auslöser für die Phasen, in denen es dir schlecht ging?

Ja. Gerade auch als ich Sozialpädagogik studierte, hatte ich die  Erwartung, dass ich nun wissen musste, wie Gesundheit funktioniert. Schliesslich war ich ja jetzt auf der «anderen» Seite.

Siehst du in den Krisen in deinem Leben einen Sinn?

Ja – sie korrigieren meinen Weg. Im Nachhinein sind sie wie Geschenke für mich. Durch die Krisen und wenn mein Leben wieder einmal auf den Kopf gestellt wird, lerne ich, zu vertrauen.

Ist die eigene psychische Gesundheit auch eine Frage der Balance?

Für mich absolut. Das lernte ich auch in der Therapie. Wenn zuviel auf einmal auf mich zukommt, geht es mir nicht gut. Deshalb versuche ich heute, meine Ansprüche im Zaum zu halten und mich in meiner Begeisterungsfähigkeit für neue Projekte bewusst zu bremsen.

Wie gut gelingt dir das schon?

Ich lerne noch (lacht). Ich bin vom Naturell her eher extrem. Ein Therapeut sagte mir einmal: «Frau Walser, ihrem Körper ist es egal, ob Sie sich selbst Druck machen oder Sie ein Säbelzahntiger überfällt. Die Wirkung ist dieselbe.» Das hat mich beeindruckt: Man kann sich selbst so unter Druck setzen, dass der Körper mit Kampf reagiert. Deshalb versuche ich es heute ruhig zu nehmen. Langsam ist ein megacooles Tempo.

Durch die Langsamkeit finde ich wieder meine Mitte und kann wieder atmen. Alles was wir im Leben müssen, ist etwas essen, etwas trinken, ab und zu aufs WC. Und atmen. Das ist für mich das Leben im Jetzt.

Weitere Lektüre

Noémie führt einen inspirierenden Blog zum Thema Genesung.

Was versteht man unter «Recovery»? Zum Beispiel, dass Menschen nach schweren psychischen Erkrankungen gesunden können. Wertvolle Informationen zu Peer und Recovery fasst
Pro Mente Sana zusammen.